Fahrzeug und Fahrtechnik

Untersteuern und Übersteuern

Mirco Gyr 02.10.2025 62 Aufrufe
Anfänger Fortgeschritten Pro-Tipp Tutorial

Übersteuern und Untersteuern: Die Balance im Motorsport-Setup

Obwohl Übersteuern und Untersteuern oft als negative oder instabile Zustände betrachtet werden, wird ein gewisses Maß an gesteuerter Rotation – eine leichte Instabilität – im Hochleistungsmotorsport gezielt genutzt, um die Kurve effektiver zu durchfahren und die Gesamtperformance zu maximieren.
Die Abstimmung ist daher immer ein Kompromiss: Das theoretisch schnellste Setup ist perfekt balanciert, doch praktische Zwänge wie Reifenverschleiß, spezifische Kurvenanforderungen oder das Fahrervertrauen führen dazu, dass oft ein leicht untersteuernder, stabilerer Bias bevorzugt wird.

Definitionen der Zustände

Untersteuern (US)
Dieser Zustand tritt auf, wenn das Fahrzeug trotz Lenkbewegung dazu neigt, einen größeren Kurvenradius zu fahren, als vom Fahrer beabsichtigt. Die Vorderräder haben nicht genügend Haftung und "schieben" über die Front.
Walter Röhrl: "Wenn Du den Baum siehst, in den Du rein fährst, hast Du Untersteuern"
Untersteuern reduziert die Kurvengeschwindigkeit und beeinträchtigt die Wahl der Ideallinie.
Übersteuern (OS)
Dieser Zustand beschreibt eine Bewegung, bei der das Fahrzeug stärker in die Kurve dreht, als beabsichtigt. Das Heck verliert die Haftung und bricht aus, wodurch der Lenkradius kleiner wird.
Übersteuern ist die gezielte Instabilität, die beim Driften ausgenutzt wird. Heckangetriebene Fahrzeuge (RWD) neigen typischerweise stärker zum Übersteuern als Frontantriebsfahrzeuge (FWD).

Systematische Setup-Korrekturen zur Balance-Anpassung

Kurvenphasen und Setup-Konsequenzen

Einlenkphase (Turn-In)
Der Fokus liegt auf der initialen Lenkreaktion. Untersteuern tritt häufig auf, wenn die Geschwindigkeit zu hoch ist oder die Last zu schnell von der Vorderachse entfernt wird (z.B. durch abruptes Gaswegnehmen ohne Bremse).
Um dem entgegenzuwirken, nutzen Fahrer die Technik des Trail Braking, bei der die Bremskraft bis tief in die Kurve hinein aufrechterhalten wird, um die Vorderachse geladen und damit lenkfreudig zu halten.
Kurvenmitte (Mid-Corner)
In dieser Phase maximaler Querbeschleunigung ist die Balance am stärksten von der mechanischen Abstimmung (Federn, Stabilisatoren, Sturz) und aerodynamischen Abtriebskräften abhängig.
Probleme hier manifestieren sich oft als andauerndes Untersteuern oder plötzliches, unvorhersehbares Übersteuern (Snap Oversteer), oft verursacht durch das Aufsetzen des Fahrzeugs (Bottoming Out).
Kurvenausgang (Exit)
Hier steht die Traktion der Antriebsachse im Mittelpunkt. Übersteuern am Ausgang wird meist durch zu starkes Beschleunigen verursacht, wodurch die Hinterräder die Haftung verlieren.
Bei Frontantrieb wird hier das Untersteuern durch die Notwendigkeit, gleichzeitig zu lenken und anzutreiben, verstärkt. Fahrtechnisch wird hier eine weiche, progressive Gaspedalbewegung ("weich raus") empfohlen, um unnötige Lastwechsel und Instabilität zu vermeiden.

Detaillierte Setup-Parameter

Fahrwerk: Federn und Stabilisatoren (Anti-Roll Bars, ARB)
Stabilisatoren (ARBs)
Stabilisatoren erhöhen die Wanksteifigkeit der jeweiligen Achse, indem sie die Radaufhängungen miteinander verbinden.
  • Zur Reduzierung von Untersteuern (Front Grip ↑): Der vordere Stabilisator muss weicher gestellt werden, ODER der hintere Stabilisator härter gestellt werden.
  • Zur Reduzierung von Übersteuern (Rear Grip ↑): Der hintere Stabilisator muss weicher gestellt werden, ODER der vordere Stabilisator härter gestellt werden.
Anmerkung: Wenn das Fahrzeug am Scheitelpunkt aufsetzt (Bottoming Out), müssen Stabilisatoren generell verstärkt werden, um die Rollbewegung einzuschränken.
Federraten
Federn beeinflussen sowohl das Wanken als auch das Nicken. Sie tragen zur Gesamtwanksteifigkeit bei.
Zur Reduzierung von Untersteuern: Die Federhärte vorne sollte gesenkt (weicher) oder die Federhärte hinten erhöht (härter) werden. Bei einer Reduzierung der Fahrhöhe müssen die Federn härter gewählt werden, um Aufsetzen zu verhindern.
Dämpfungssysteme (Stoßdämpfer)
Die Dämpfung kontrolliert die Geschwindigkeit der Lastverschiebung und ist damit für die dynamische Balance bei schnellen Bewegungen (Einlenken, Überfahren von Curbs) verantwortlich.
  • Druckstufe (Bump): Kontrolliert die Einfedergeschwindigkeit. Eine härtere Druckstufe (besonders Low-Speed Bump) an der Vorderachse kann das initiale Einlenk-Untersteuern reduzieren, da die Lastverschiebung auf die kurvenäußeren Räder verzögert wird.
  • Zugstufe (Rebound): Kontrolliert die Ausfedergeschwindigkeit. Die Zugstufe ist entscheidend dafür, wie schnell und kontrolliert der Reifen nach einer Kompression (z.B. über einen Curb) wieder Bodenkontakt aufnimmt. Eine zu weiche Zugstufe kann die Stabilität bei schnellen Lastwechseln verringern.
Fahrwerkseinstellung (Alignment: Sturz und Spur)
Die Achsgeometrie optimiert die Reifenaufstandsfläche unter dynamischen Bedingungen.
Sturz (Camber)
Der negative Sturz (Radneigung nach innen) ist notwendig, um die Reifenaufstandsfläche in der Kurve zu maximieren, da die Karosserie wankt und die Reifen sich verformen.
Korrektur Untersteuern: Der negative Sturz an der Vorderachse wird erhöht, um den Kurven-Grip vorne zu verbessern.
Kompromiss: Ein zu hoher negativer Sturz reduziert den Grip auf der Geraden und verursacht ungleichmäßigen Reifenverschleiß (innen stärker). Die Einstellung muss so gewählt werden, dass die Reifentemperatur über die gesamte Lauffläche gleichmäßig ist.
Spur (Toe)
  • Nachspur (Toe-Out): Eine leichte Nachspur vorne (Räder zeigen leicht nach außen) erhöht die initiale Lenkempfindlichkeit und fördert eine aggressivere Einlenk-Rotation. Dies wird zur Korrektur von Einlenk-Untersteuern verwendet.
  • Vorspur (Toe-In): Erhöht die Stabilität bei hohen Geschwindigkeiten auf der Geraden.
Setup-Korrektur mittels Differential (Differential Locking Mechanism)
Das Sperrdifferential (LSD) kontrolliert die Kraftübertragung zwischen den Rädern einer Achse und hat dadurch einen direkten Einfluss auf die Fahrwerksbalance, insbesondere am Kurvenausgang unter Last.
Einfluss der Abstimmung auf Über- und Untersteuern
Schub-Sperrwert (Deceleration Lock): Wirkt, wenn das Gas weggenommen oder gebremst wird. Ein höherer Schub-Sperrwert sperrt das Differential beim Einlenken stärker. Dies erhöht die mechanische Steifigkeit der Achse und fördert die Fahrzeugrotation, was oft zur Eliminierung von Einlenk-Untersteuern genutzt wird (leichte Übersteuerneigung).
Zug-Sperrwert (Acceleration Lock): Wirkt beim Gasgeben (Kurvenausgang).
  • Heckantrieb (RWD): Ein höherer Zug-Sperrwert führt zu einer effektiveren Traktion und kann die Rotation des Fahrzeugs unter Last fördern, was zu einem kontrollierten Power Oversteer führen kann.
  • Frontantrieb (FWD): Bei FWD dient das Differential dazu, die Antriebskraft auf das kurvenäußere, entlastete Rad zu leiten. Ein zu hoher Sperrwert kann jedoch Power Understeer verstärken, da die Vorderräder gezwungen werden, stärker zu rutschen.

Aerodynamische Balance und Fahrhöhe

Bei Fahrzeugen mit hohem Abtrieb (GT3, Formel, Prototypen) dominieren aerodynamische Kräfte das Handling bei mittleren bis hohen Geschwindigkeiten.
Die Abstimmung des Anpressdrucks (Flügelwinkel)
Die einfachste Korrektur erfolgt über die Flügelwinkel:
  • Korrektur Untersteuern (High Speed): Der Vorderflügelwinkel wird erhöht (oder der Heckflügelwinkel gesenkt). Dies verschiebt die Aero-Balance nach vorne, was den Front-Grip bei hohen Geschwindigkeiten steigert.
  • Korrektur Übersteuern (High Speed): Der Heckflügelwinkel wird erhöht (oder der Vorderflügelwinkel gesenkt), was den Hinterrad-Grip steigert.
Jede Erhöhung des Flügelwinkels führt jedoch zu zusätzlichem Luftwiderstand (Drag), was die Höchstgeschwindigkeit verringert. Daher ist ein Kompromiss zwischen notwendigem Grip und maximaler Effizienz erforderlich.
Die entscheidende Rolle des Rake (Neigungswinkel)
Der Rake ist die Höhendifferenz zwischen der vorderen und hinteren Fahrzeughöhe, wobei die Front typischerweise tiefer liegt als das Heck. Rake ist ein kritischer Parameter für die Steigerung des aerodynamischen Grips.
Wirkungsmechanismus (Ground Effect und Diffusor)
  • Vorderachse: Durch das Absenken der Front in Relation zum Heck (Erhöhung des Rake) wird der Frontflügel näher an den Boden gebracht, was den Abtrieb durch den Bodeneffekt signifikant steigert.
  • Diffusor: Der Rake vergrößert den effektiven Neigungswinkel des Diffusors und das Luftvolumen unter dem Fahrzeug. Dies beschleunigt die Luft am Unterboden und maximiert den Unterdruck (Bernoulli-Effekt), was den Gesamtabtrieb erhöht.
Korrektur Untersteuern (High Speed): Der Rake sollte erhöht werden (Front tiefer/Heck höher), um den aerodynamischen Front-Grip zu maximieren.
Dynamischer Rake: Im Hochleistungssport (z.B. Formel 1) wird oft ein hoher statischer Rake mit weicheren Hinterradfedern kombiniert. Bei Höchstgeschwindigkeit drückt der enorme Abtrieb das Heck nach unten (Squat), wodurch der Rake dynamisch reduziert wird. Dies minimiert den Luftwiderstand auf der Geraden, während der hohe Rake in langsamen Kurven (mit geringer Abtriebslast) für den notwendigen aggressiven Front-Grip sorgt.
Wichtig: Ein tiefer eingestelltes Auto muss zwingend härtere Federn fahren, um das Aufsetzen (Bottoming Out) zu verhindern, was zu einem unkontrollierbaren, abrupten Gripverlust führen würde.

Empfehlungen für Sim-Racing-Setups

Aggressivität und Anpassung
Oftmals sind verbreitete Sim-Racing-Setups extrem aggressiv auf die maximale Qualifikationsrunde ausgelegt. Diese können von vielen Fahrern als zu instabil empfunden werden.
Um die Konstanz und das Wohlbefinden über eine Renndistanz zu verbessern, wird empfohlen, diese Setups durch leichte Anpassungen sicherer zu gestalten (z.B. ARB vorne härter stellen), was über die Renndistanz zu besseren Gesamtzeiten führt.
Spezielle Fahrtechniken
Im Sim Racing kann die Technik des Left-Foot Braking (LFB) effektiv genutzt werden, um das Auto künstlich zu destabilisieren und Rotation zu erzeugen.
Dies ist besonders bei FWD-Fahrzeugen nützlich, um das typische On-Throttle Understeer zu kompensieren: Durch gleichzeitiges Gasgeben (70–100%) und leichtes Bremsen (15–30%) wird die Vorderachse stabilisiert und die Hinterachse entlastet, was ein kontrolliertes Übersteuern auslöst.

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